Hesiod und die Herausbildung der Götterwelt im archaischen Griechenland

Transkript zum Vortrag

Aidos und Dike. Wie die Griechen über den Ursprung der Kultur dachten 

Hesiod erzählt in zwei Werken, der Theogonie und den Werken und Tagen, wie sich die Griechen die Herausbildung der olympischen Götterwelt und den Ursprung der Kultur vorstellten. Beiden Werken gemeinsam ist die Schilderung des konfliktreichen  Zusammenwirkens des Titanen Prometheus mit dem Göttervater Zeus bei der Verteilung der  Gaben an das Menschengeschlecht. Dabei treten zwei “Kulturwerte“ hervor, nämlich Aidos und Dike. Sie sind Aspekte der Themis, der Götter und Menschen umfassenden  Sittenordnung. Die Begriffe “Aidos“ und “ Dike“ weisen eine interessante Geschichte auf:  “Aidos“ können wir mit Schamgefühl übersetzen und stellen dann fest, dass mit ihm eine  Vielzahl von Bezugswendungen verbunden sind, denn schämen kann man sich vor sich selbst,  den Mitmenschen und den Göttern. Nicht weniger interessant ist die “Dike“, und zwar  aufgrund ihrer Verwandtschaft mit der “Nemesis“. Während diese die zügellose Rachsucht  verkörpert, repräsentiert jene die maßvolle Wiedervergeltung. Die vier herausgestellten  Begriffe, insbesondere Aidos und Dike, verraten uns etwas über die Wandlungen der  griechischen Populärethik. Diese Begriffe spielen auch in der Epik, der Lyrik, der Tragödie und  der klassischen Philosophie eine Rolle. Unsere Veranstaltung will auf einige dieser Zusammenhänge ein erstes Licht werfen. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren! 

Ich habe es als eine große Ehre empfunden, als ich vor einiger Zeit von Herrn  Tietz gefragt wurde, ob ich bereit sei, an ihrem Institut einen einführenden  Vortrag über die Alltagsethik im archaischen Griechenland an Ihrem zu halten.  Ich bin seit längerer Zeit der Überzeugung, dass die Zuwendung zur Antike ein  unverzichtbares Element unseres Bildungsauftrages ist und habe selbst in den  vergangenen Jahren die griechische und römische Philosophie und Literatur für  mich wiederentdeckt. Ich muss freilich mit dem Eingeständnis beginnen, dass  mir die althistorische und altphilologische Expertise für eine vertiefte  Auseinandersetzung mit diesem Zeitraum der europäischen Geistesgeschichte  abgeht. Es ist daher mein ausschließliches Bestreben, Ihnen am Beispiel zu  verdeutlichen, dass und warum auch die zeitgenössische Philosophie weiterhin  aus einer Beschäftigung mit der Antike Nutzen ziehen könnte.1 

Da mir Herr Tietz freundlicherweise die Freiheit gelassen hat, das Thema meines  Vortrages nach eigenem Gutdünken auszugestalten, habe ich beschlossen, zwei  Motive herauszustellen, die mit den Stichworten Aidos und Dike verbunden sind.  Diese verkörpern in älterer Zeit zwei sittliche Regulative, denen das Verhalten  der Menschen unterworfen ist. Hierzu einige vorbereitende Bemerkungen. Die  

1 Zur Einführung in unser Thema siehe Schwartz, E.: Die Ethik der Griechen, Stuttgart 1951:  Köhler Verlag.

ältesten Zeugnisse, die ich in meiner Darstellung aufgreifen werde, entstammen  der Zeit von Homer und Hesiod. Nun lebte Homer, soweit wir wissen, in der  zweiten Hälfte des achten oder der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts,  Hesiod einige Jahrzehnte später zwischen 740 und 670 vor Christi Geburt. Der  Historiker Herodot schreibt in seinem Geschichtswerk, dass es Homer und  Hesiod gewesen seien, “die den Griechen die Entstehung der Götter dichterisch  dargestellt, den Göttern ihre Beinamen gegeben, die Ehren und Künste unter sie  verteilt und ihre Gestalten beschrieben haben.“2 Wenn wir im Blick auf diese Zeit  von Archaik sprechen, so müssen wir vor Augen haben, dass viele Jahrhunderte  der griechischen politischen und Kulturgeschichte vorangegangen sind, das  minoische und das mykenische Zeitalter sowie die dunklen Jahrhunderte  zwischen dem zwölften und dem achten vorchristlichen Jahrhundert. Homer ist  bereits ein Abgesang auf das adlige Kriegertum, Hesiod zeigt uns die Entstehung  einer bürgerlichen Welt von Bauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. 

In einem seiner frühen Dialoge beschreibt Platon, wie Sokrates seine  intellektuellen Kräfte mit einem Altmeister der Sophistik misst, nämlich mit  Protagoras, nach dem der Dialog benannt ist.3 Die älteren Philosophen hatten  ihr Interesse zumeist auf die Natur und auf die Götter gerichtet, während die  Sophisten den Menschen und die menschliche Lebenswelt in den Mittelpunkt  des Denkens rücken. Protagoras etwa formuliert den sog. homo mensura-Satz:  “Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind.“ Wie immer dieser Satz zu interpretieren sein mag,  der Sophist behauptet in ihm jedenfalls den menschlichen Ursprung der Werte.  Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, fragt er seine Zuhörerinnen und  Zuhörer, ob sie eine Märchenerzählung oder eine begriffliche Erörterung  vorziehen. Man entscheidet sich zunächst für die Märchenerzählung, der freilich  alsbald eine begriffliche Erörterung folgt, für die Protagoras und der jüngere,  noch minder berühmte Sokrates ihren gesamten Scharfsinn aufbieten müssen.  Das Märchen selbst entnimmt Protagoras zwei Werken Hesiods, nämlich der  Theogonie4 und den Werken und Tagen5. In der Theogonie schildert Hesiod, wie  sich aus dem Kampf der Urgottheiten die drei sukzessiven Weltregimente des  

2 Herodot, Historien, 5. Aufl., übers. u. hg. v. H.-G. Nesselrath, Stuttgart 2017: A. Kröner,  Zweites Buch, Kap. 52, 1. 

3 Platon, Protagoras, griechisch/deutsch, übers. u. hg. v. H.-W. Krautz, Stuttgart 1987: Ph.  Reclam. 

4 Hesiod, Theogonie, griechisch/deutsch, übers. u. hg. v. O. Schönberger, Stuttgart 2018. 5 Hesiod, Werke und Tage, griechisch/deutsch, übers. u. hg. v. O. Schönberger, Stuttgart 1996.

Uranos, des Kronos und des Zeus herausbilden. Zeus ist nicht schon zu Beginn  der Göttervater, er muss sich der Giganten und der Titanen erwehren, die mit  ihm um die Herrschaft ringen. Wie wir sogleich hören werden, ist er mit dem  Titanen Prometheus, dem Sohn des Iapetos, in eine freundlich-feindliche  Beziehung verstrickt, denn dieser verhilft ihm zur Herrschaft, gerät aber um der  Menschen willen mit ihm in Streit. In den Werken und Tagen wendet sich Hesiod  der menschlichen Lebenswelt und der Arbeitsethik zu; er ruft seine Zeitgenossen  zum Gehorsam gegenüber Recht und Sitte auf und entwirft Regeln einer guten  Gemeinschaft.6 

Die Werke und Tage beginnen mit einer Ermahnung an den Bruder Perses, sich  an Recht und Gesetz zu halten, denn er war mit diesem in einen erbitterten  Erbstreit verwickelt. Auch in diesem Werk spielt die Prometheus-Legende eine  bedeutende Rolle, diese ist gleichsam ein Scharnier zwischen den Hauptwerken  Hesiods. Er berichtet, wie der Titan Prometheus, der Freund der Sterblichen,  mehrfach den Göttervater Zeus hintergeht. Prometheus sorgt dafür, dass die  Menschen von dem Wild das beste Fleisch bekommen, den Göttern aber nur Fell  und Knochen als Opfer dargebracht werden. Auch stiehlt der Titan das Feuer und  überbringt es seinen Günstlingen im Schaft der Narthex-Pflanze.7 Zeus nimmt  Rache sowohl an Prometheus als auch an seinen Günstlingen, den Sterblichen.  Prometheus wird zunächst in den Tartaros geworfen, später an einen Felsen  geschmiedet, mutmaßlich den Kaukasus. Aischylos, der älteste der großen  griechischen Tragiker, hat in drei nur bruchstückhaft erhaltenen Stücken dargestellt, wie Zeus dem gefesselten Prometheus Genugtuung widerfahren  lassen muss, um seiner Entmachtung zu entgehen. Denn nur der Titan kennt das  Geheimnis, dass es eine eheliche Verbindung geben könnte, aus der ein Sohn  hervorgehen würde, der über eine mächtigere Waffe verfügen würde als Zeus  und diesen zu entthronen vermöchte. Als Kenner der griechischen Mythologie  erinnern wir uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass die uralte  Meergöttin Thetis dann mit einem Sterblichen vermählt wird, nämlich mit  Peleus. Aus dieser Ehe geht Achilleus hervor, der große Vergebliche, dessen  kurzes aber ruhmreiches Leben durch den von Apollon gelenkten Pfeilschuss des  Paris vor Troja endet. Aber zurück zu dem Märchen, das Protagoras Hesiod  nacherzählt! Zeus bestraft nicht nur den Titanen Prometheus, sondern auch die  

6 Zu Hesiod siehe etwa noch: Nilsson, M. P.: Geschichte der griechischen Religion, 1. Band, 4.  Auflage, München 1976: C. H. Beck, pp. 620 – 625. 

7 Die Narthex-Pflanze ist der sog. Riesenfenchel, aus dem ein Becher oder Behältnis gefertigt  werden konnte.

Sterblichen, indem er die Nahrung verbirgt, so dass sie im Schweiße ihres  Angesichts der Erde ihre Feldfrüchte entreißen müssen. Auch lässt er  Hephaistos, den göttlichen Schmied, aus Lehm eine Mädchengestalt schaffen,  die Pandora, und sie mit Lebenskraft versehen. Athene stattet sie mit hohem  künstlerischem Geschick, Aphrodite sie mit unwiderstehlichem Liebreiz aus.  Auch einen verschlagenen Sinn und die Begabung der trügerischen Rede  verleihen die Götter der Pandora. 

Der Götterbote Hermes bringt nun dieses Mädchen zu Epimetheus, dem Bruder  des Prometheus. Während Prometheus über eine prophetische Gabe verfügt  und die Zukunft vorherzusagen vermag, ist sein Bruder ein wenig einfältig.  Darum schlägt er die Warnung des Prometheus in den Wind, keine Gaben von  Zeus anzunehmen, und so nimmt das Unheil seinen Lauf: Pandora entlässt, wenn  auch unabsichtlich, alle Übel aus ihrer Büchse, allein die Hoffnung bleibt zurück.  Diese Episode erinnert nicht von ungefähr an das homerische Weistum, dass auf  dem Olymp zwei große Gefäße stehen, deren eines glückliche, deren anderes  unglückliche Lose enthält. Den Menschen werden aber stets nur gemischte Lose  zugeteilt, wenn nicht überhaupt ausschließlich Unglückslose. Hesiod bettet  dieses Märchen in eine Rahmenerzählung ein, die von den fünf Zeitaltern der  Menschheit handelt. Es gibt eine absteigende Entwicklungslinie, die vom  goldenen Zeitalter über das silberne zum ehernen Zeitalter führt: In diesem letzten drohen die Menschen als gewalttätige Wüstlinge sich selbst auszurotten.  Daher schafft Zeus ein weiteres Geschlecht, das der Heroen, und durch dieses tritt eine vorübergehende Wendung zum Besseren ein. Hesiod glaubt in dem  fünften Zeitalter zu leben, das dadurch bestimmt ist, dass die Menschen  mühselig die größte Not lindern und ein erbärmliches Dasein fristen müssen.  Nicht nur das Alte Testament, auch die Werke und Tage Hesiods kennen den  Fluch der Arbeit. Es zeugt von dem tiefen Pessimismus des Dichters, wenn er meint, er würde lieber früher oder später als in diesem fünften Zeitalter gelebt  haben. Immerhin aber, so dürfen wir feststellen, bewahrt die Menschheit auch  in diesem Zeitalter die Erinnerung daran, dass es einmal bessere Zeiten gegeben  hat. 

Die von mir im Vorstehenden nur in ihren Grundzügen referierte Lehre von den  fünf Zeitaltern ist eine modifizierte Theorie der Dekadenz, die zumindest den  menschlichen Zustand, darüber hinaus aber wohl auch den Weltzustand als 

ganzen betrifft.8 Am Beginn steht ein goldenes Zeitalter, in dem die Menschen  mit den Göttern vereint sind, kaum um ihren Lebensunterhalt bemüht sein  müssen und zuletzt sanft entschlafen. Als sie nach dem Willen des Zeus unter die  Erde versetzt werden, übernehmen sie die Aufgabe, als gute Geister über die 

Rechtssprüche der Lebenden zu wachen. Das ihnen nachfolgende silberne  Geschlecht gleicht in einigen Wesenszügen seinem Vorgänger, neigt aber bereits  zur Gewalt und wird dem religiösen Herkommen untreu, es verletzt mehr und mehr die Sittenordnung. Auch die Menschen dieses Zeitalters werden unter die  Erde versetzt und gelten immerhin noch als selige Sterbliche. Anders das dritte  von Zeus geschaffene, das eherne Geschlecht: Dieses ist unförmig von Gestalt  und von unbändiger physischer Kraft und findet ausschließlich Gefallen an  gewalttätigen Auseinandersetzungen, so dass die Ausrottung der Menschheit  droht. Damit ist ein Tiefpunkt erreicht, zugleich auch ein Wendepunkt, denn nun  folgt das Zeitalter der Heroen, der adligen Krieger, von deren ruhmreichen Taten  die Epen Homers und der thebanische Sagenkreis berichten. Infolge ihrer  kriegerischen Veranlagung müssen aber auch diese Heroen den Schauplatz der  Erde verlassen, die Glücklichen unter ihnen gelangen auf die Insel der Seligen,  die Unglücklichen werden in den Hades versetzt. Mit der Schilderung des dritten  und des vierten Geschlechts betritt Hesiod historischen Boden, er scheint  beispielsweise zu erkennen, dass der Eisenzeit eine Bronzezeit vorangegangen  sein muss. Auch fällt das zurückhaltende Lob der heroischen Tugenden auf,  anders als Homer ist Hesiod bereits ein Zeitgenosse der aufkommenden  bürgerlichen Gesellschaft. 

Den Abschluss dieser Entwicklung bildet das eiserne Geschlecht, dem Hesiod  selbst angehört. Dieses Zeitalter wird ganz von der Lebensnot und dem Fluch der  Arbeit bestimmt, Kummer und Leid überschatten das Seelenleben der  Menschen. Was aber Hesiod besonders bestürzt, ist der allgemeine Sittenverfall:  Den Eltern wird die schuldige Achtung verwehrt, Gewalt gegen Blutsverwandte,  Freunde und Gäste nimmt überhand. Der Eidestreue und der Gerechte gelten  nichts mehr, es regiert das Faustrecht: “Dann nun verlassen Aidos und Nemesis  die Menschheit und gehen beide […] zum Olympos, zur Schar der Unsterblichen.  

8 Zu den kulturphilosophischen Aspekten der Lehre Hesiods siehe Müller, R.: Die Entdeckung  der Kultur. Antike Theorien über Ursprung und Entwicklung der Kultur von Homer bis Seneca,  Düsseldorf und Zürich 2003: Artemis und Winkler (Patmos Verlag), pp. 30 – 41. Auf den  orientalischen Ursprung der Dekadenztheorien verweist Cornford, F.M.: Principium  sapientiae. A Study of the Origins of Greek Philosophical Thought, hg. v. W. K. C. Guthrie,  Cambridge 1952: Cambridge University Press.

Übrig bleiben den Menschen nur bittere Schmerzen, und nirgends ist Abwehr  des Unheils.“ (Hesiod, Werke und Tage, 196 – 200).9 In dem Gleichnis von der  Nachtigall und dem Habicht beschreibt Hesiod die fürchterlichen Auswirkungen,  die das Recht des Stärkeren hat. Er schließt mit einer Mahnung an den Bruder  Perses, sich an Recht und Gesetz zu halten, hat Hesiod doch Grund zu der  Befürchtung, dass dieser ihn um seinen gerechten Anteil am väterlichen Erbe  betrügen wolle. 

Ich bitte Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, für den nacherzählenden  Charakter meiner bisherigen Darstellung um Nachsicht, denn ich will mich nun  endlich einigen theoretischen Aspekten unseres Themas zuwenden. Der im  Vorstehenden referierte Text enthält einige Schlüsselbegriffe, die noch einmal  aufzuzählen und zu kommentieren sind. Sie werden schon bemerkt haben, dass  Hesiod, wo wir Begriffe erwarten würden, göttliche oder gottähnliche Wesen  auftreten lässt. In unserem Text sind dies Θέμις, Αἰδώς, Δίκη und Νέμεσις. Die  Themis wacht über die Sittenordnung bzw. sie ist die personifizierte  Sittenordnung. Aidos ist die Göttin der Ehrfurcht oder frommen Scheu, das  zugehörige Begriffswort “aidos“ bedeutet aber auch so viel wie Schamoder  Schandeund unterhält eine komplexe inhaltliche Beziehung zu einem  weiteren griechischen Wort, nämlich τὸ αἰσχρόν, welches für das sittlich  Abstoßendeoder moralisch Hässlichesteht. Das Verb αἰσχύνομαι heißt  sowohl “hässlich machen“, “entstellen“, als auch “sich für etwas schämen“. Dike wiederum ist die Göttin der Gerechtigkeit und der gerechten Vergeltung,  Nemesis verkörpert eine Aufwallung des Zorns, die immer dann eintritt, wenn  die Themis verletzt wird. Vielleicht ist die Nemesis die ursprünglichere, wildere Gestalt der Dike, und jedenfalls ist die Aidos ihre ständige Begleiterin. Alle diese  göttlichen oder gottähnlichen Wesen leiten sich aus der Vorwelt ab, als Zeus und  die olympischen Götter noch nicht das ausschließliche Weltregiment  übernommen hatten. Themis ist die Tochter des Uranos und der Gaia, und eine  Titanin. Aidos soll dem Chorlyriker Pindar zufolge eine Tochter des Prometheus,  also ebenfalls von titanischer Herkunft sein. Die Themis hatte drei Töchter, die  so genannten Horen, Eunomia (gesetzliche Ordnung), Dike (gerechte Vergeltung)  und Irene (Frieden). Die Nemesissoll eine Tochter der Nacht sein, die Vaterschaft  liegt im Dunkeln und wird bald dem Erebos, bald dem Okeanos zugeschrieben. Themis und Dike sitzen an der Seite des Zeus, wie die Erinyen unterstützen sie  ihn dabei, die gerechte Weltordnung zu stabilisieren. 

9 Hesiod, Werke und Tage, pp. 196 – 200. 

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Es ist keine leichte Aufgabe zu entscheiden, ob sich Hesiod über den Status  dieser göttlichen oder gottähnlichen Wesen den Kopf zerbrochen hat. Es hat den  Anschein, dass die alten Griechen nicht in derselben Weise an ihren  Götterhimmel geglaubt haben wie der fromme Jude, Christ oder Moslem an den  Gott der monotheistischen Religion.10 Vielleicht hatte Hesiod schon erkannt,  dass es sich bei diesen vermeintlichen Wesen um Allegorien handelt, um  poetische Umschreibungen von Begriffsinhalten, und dass er diese Allegorien  wieder in eine mythisch-narrative Umgebung eingebettet hat. Jedenfalls sieht  man ohne Weiteres, dass die von uns identifizierte Situation nach Aufklärung  verlangt, entweder durch eine historische Mythenkritik oder auch durch eine  dialektische Erörterung. Beide Bewältigungsversuche findet man schon in der  Antike, die historische Mythenkritik bei Euhemeros, Palaiphatos und  Poseidonios, die dialektische Erörterung bei dem platonischen Sokrates und  anderen Philosophen. Anstatt diesen Verzweigungen der antiken Tradition an  vorliegender Stelle weiter nachzugehen, möchte ich Sie auf einen Unterschied  aufmerksam machen, der für unsere Betrachtungen noch an Bedeutung  gewinnen wird. Die alten Völker besaßen offenkundig ein Organ für die  Wertmannigfaltigkeiten ihrer von einem polytheistischen Götterhimmel  überwölbten Lebenswelt, das uns Heutigen, die wir über die Kulturstufe des  Monotheismus hinweggeschritten und unter die Ägide der mathematischen  Naturwissenschaften gelangt sind, in gewisser Weise abhandengekommen ist.  Nur so ist es zu verstehen, dass ein Dichter wie Hesiod das ethisch und rechtlich  Gebotene in eine Vielzahl von Einzelbestimmungen zerlegt, deren Namen er aus  dem reichen Born der überlieferten Mythologie schöpft.  

Der Mythos ist der Bewusstseinsmodus, welcher der Vielgestaltigkeit von Leben  und Welt adäquat angepasst ist, der Logos ist das Instrument der begrifflichen  Konzentration und argumentativen Stringenz. Darum erfreuen wir Heutigen uns  der Anmut der griechischen Götter- und Heldensagen, tun uns aber schwer, ihrer  tiefgründigen Weisheit auf den Grund zu gehen. Die Lebensregeln, die Hesiod im  Einzelnen verfügt, stellen den Wertewandel unter Beweis, der seit den Tagen  eines Homer eingetreten ist. Es fehlen auf der einen Seite der Großmut und der  hochfahrende Sinn, der so manchen Heros einer älteren Kulturstufe  auszeichnete, ihn aber auch in das Verderben stürzen konnte. Für Hesiod sind  

10 Hierzu vgl. Murray, G.: Five Stages of Greek Religion. Studies based on a Course of Lectures  delivered in April 1912 at Columbia University, Oxford 1925: Clarendon Press, pp. 96 – 101. Vgl. Jaeger, W.: Die Theologie der frühen griechischen Denker (ursprünglich unter dem Titel  The Theology of the Early Greek Philosophers), Stuttgart 1953: Kohlhammer. 

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andere Werte: Eidestreue, Rechtsgehorsam, bürgerlicher Anstand und eheliche  Treue wichtig. Auch spiegeln seine Lebensregeln den Ablauf der Jahreszeiten  wider, in deren Zyklus das bäuerliche Leben eingebunden, manchmal auch  eingezwängt ist. Wo er diesen Umkreis überschreitet, berühren sich seine  Lebensregeln nicht selten mit den Aussprüchen der berühmten sieben Weisen,  die einige Generationen jünger sind als er. Sowohl bei Hesiod als auch bei den  sieben Weisen findet sich der Ratschlag der Mäßigung: μηδὲν ἄγαν, auch μέτρον  ἄριστον, “nichts im Übermaß, “das Mittlere ist das Beste“. Das Schweigen ist oft  besser als die unüberlegte Rede, kränkende Äußerungen sollte man nach  Möglichkeit vermeiden. Die Ehrfurcht vor den Göttern, die Achtung der Eltern,  die Pflege der Freundschaft sind Hesiod mit den sieben Weisen gemein. Aber es  gibt auch die Ermahnung, beim Handeln den καιρὸς nicht zu verabsäumen, den  rechten Zeitpunkt. Die Griechen hatten eine eigene Philosophie der Zeit, deren  Nuancenreichtum unserer modernen Auffassung, wenigstens in lebens weltlicher Hinsicht, überlegen sein mag. Die volkstümliche Ethik der Griechen  wird allen Aspekten des menschlichen Lebens gerecht, sie thematisiert das  Verhältnis des Menschen zu sich selbst und differenziert nach den Beziehungen  zu den Göttern, den Mitmenschen und der staatlichen Gemeinschaft.11 In den  Inschriften des Apollon-Tempels zu Delphi steht der Ratschlag der Mäßigung  neben dem Aufruf zur Selbsterkenntnis: γνῶθι σεαυτόν, “Erkenne dich selbst!“. Hesiod und die sieben Weisen kennen die Endlichkeit der Existenz, die  Sterblichkeit des Menschen, aber die Übersetzung dieser Erkenntnis in das  sokratische Wissen des Nicht-Wissens bleibt ihnen noch fremd.  

Wenn man W. Schadewaldt12 folgen darf, meine sehr geehrten Damen und  Herren, so haben die alten Griechen, außer dem Dionysos-Kult, vor allem zwei  philosophische Theologien von Format hervorgebracht, die Zeus-Religion und  die Apollon-Religion. Die olympischen Götter sind mutmaßlich in Griechenland  nicht autochthon, sondern im Laufe mehrerer Einwanderungswellen aus dem  Norden in das ursprünglichere, pelasgische Griechenland gekommen und haben  dort entweder die lokalen Gottheiten verdrängt oder sind mit diesen  

11 Hierzu siehe Zeller, D.: “Die Worte der sieben Weisen – ein Zeugnis volkstümlicher  griechischer Ethik“, in: Althoff, J. und D. Zeller (Hrsg.): Die Worte der Sieben Weisen,  griechisch/deutsch, Darmstadt 2006: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, pp. 105 – 158. 12 Schadewaldt. W.: “Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee“ (Vortrag, gehalten  anlässlich der Entgegennahme des Reuchlin-Preises der Stadt Pforzheim am 16. November  1963, in: ders.: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt  a. M. 1990: Insel Verlag, pp. 9 – 31.

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verschmolzen. Bereits in den homerischen Epen scheinen sie mit gewissen  menschlichen Tugenden in aufschlussreicher Verbindung zu stehen, Zeus und  seine Tochter Pallas Athene etwa raten den Sterblichen zur Besonnenheit. Die  Religion von Zeus und Athene ist eine Theologie der Dike, der Gerechtigkeit oder  der gerechten Vergeltung, die Apollon-Religion versteht sich als Hüterin der  Sakralordnung, der Reinigung und Entsühnung schuldbeladener Existenzen,  sowohl von Göttern als auch von Menschen. Obwohl Apollon wie Athene eine  junge Gottheit ist, bewahrt er doch in gewisser Weise das Motiv der Aidos, der  frommen Scheu, das älter sein mag als die Dike, die Gerechtigkeit oder gerechte  Vergeltung. Das Wechselspiel von Aidos und Dike lässt sich durch das gesamte  griechische Geistesleben hindurch verfolgen, von Homer über die griechischen  Tragiker bis hin in die klassische griechische Philosophie, d. h. bis hin zu Platon  und Aristoteles und darüber hinaus. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, in so  knappem Rahmen die vielfältigen Abwandlungen zu verfolgen, die unser  Doppelmotiv, bei Homer, Aischylos, Sophokles und Euripides erfährt, ich werde  mich daher mit einigen Bemerkungen zu Philosophie und Dichtung begnügen.  

Dass Aidos und Dike einander ergänzende Gegensätze bilden, ist bis auf die  homerischen Epen zurückzuführen. Der Göttervater Zeus waltet als Garant der Weltordnung über den streitenden Parteien: Gilt es eine schwere Entscheidung  zu treffen, so nimmt er seine Waage zur Hand, zunächst Ausdruck des  vergöttlichten Zu-falls, späterhin das Sinnbild der abwägenden Gerechtigkeit.  Aber die fromme Scheu scheint weit mehr den Trojanern als den Griechen zu  eigen zu sein, so dass man den trojanischen Vorkämpfer Hektor sogar als den  Helden der Aidos bezeichnet hat.13 Aber wir gehen jetzt von den homerischen  Epen zu Aischylos, dem ältesten der drei großen griechischen Tragiker des  fünften Jahrhunderts vor Christus. Zunächst also zu dem Gefesselten  Prometheus, einem in weiten Teilen erhaltenen Stück aus dem Gesamt zusammenhang einer Tetralogie. Die Datierung ist ungewiss, auch ist eine  spätere Bearbeitung nicht auszuschließen. Aber es wird sogleich ersichtlich  werden, dass und warum es zweckmäßig ist, mit diesem Werk einzusetzen.  Prometheus ist der einzige von den Titanen, den Söhnen der Gaia und des 

Kronos, der Zeus im Kampf mit den älteren Gottheiten unterstützt hat, aber nun  zerstreitet er sich mit ihm über das Schicksal der Menschen. Zeus in seinem Groll  

13 Cairns, D. L.: Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek  Literature, Oxford 1993: Clarendon Press, pp. 79 – 83. Der mit dem Königshaus des Priamos  verbundene Fürst der Dardaner, dessen Sohn Julus die Stadt Alba Longa gründet und damit  den Grundstein für die spätere Weltherrschaft Roms legt, heißt den Römern pius Aeneas.

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wirft ihn zunächst in den Tartaros, die tiefste Stelle des Hades, befreit ihn dann  aus der Unterwelt und lässt ihn mit Hilfe des Hephaistos an den Kaukasus  schmieden. Aber Prometheus verfügt, wie wir wissen, über eine Trumpfkarte,  denn er kennt die mögliche Verbindung, die Zeus nicht eingehen oder zulassen  darf, wenn er nicht seine Herrschaft an den Sohn aus dieser Verbindung verlieren  will. Diese Verbindung gibt er in seinem unbeugsamen Trotz ungeachtet aller  Drohungen und Schmeicheleien nicht preis. Über Zeus sagt er, er sei παρ‘ ἑαυτῷ τὸν δίκαιον ἔχων, d.h. er trage das Recht in sich selbst oder sei geradezu mit ihm  identisch. (In diesen Worten tritt nicht die Dike als allegorische Person auf,  vielmehr vertritt das nominalisierte Adjektiv, wie so oft im Griechischen das  substantivische Begriffswort.) Aber wie später in der Dialektik an vielen  Beispielen gezeigt, so kann auch die Gerechtigkeit in Widerstreit mit sich selbst  geraten. Prometheus verkündet das in den folgenden Versen: 

Ich weiß, er ist hart, und er nimmt das Recht  

Aus sich selber, doch lernt er die Sanftmut noch, 

wenn Gefahr ihn zermürbt; 

Die schmilzt seinen unerbittlichen Zorn 

Und zum Freundschaftsbund, 

eifrig dem Eifrigen, 

reicht er die Hand. 

Der Gefesselte Prometheus, V. 186 – 192  

Übers. v. E. Buschor 

Prometheus rühmt sich als Kulturbringer, dessen Wirken für die Menschheit ein  Segen gewesen sei, wir kennen diese Ruhmestaten aus Hesiods Werken und  Tagen und aus Platons Protagoras. Seine Klage über die Willkürherrschaft des  Zeus wird von Io geteilt, die von Zeus verführt und dann in eine Kuh verwandelt  wurde. Aus Ios Stamm wird Herakles hervorgehen, ein anderer Kulturbringer,  der dermaleinst die Fesseln des Prometheus lösen wird.14 Die Problematisierung  

14 Euripides, der jüngste der drei großen griechischen Tragiker gibt in seinem Herakles eine  hochinteressante Deutung dieser Gestalt: Herakles ist einerseits ein gebrochener Mann, da er  sich im Wahn an seiner Familie vergriffen hat. Andererseits aber ist er, weil er die ihm  auferlegten Prüfungen bestanden hat, der eigentliche Wohltäter der Griechen. Diese werden  in Zukunft nicht seine missgünstige Stiefmutter Hera anbeten, sondern ihn, den Herakles. In  diesem Stück des Euripides verbindet sich die Kritik an den olympischen Göttern mit einer  tiefgründigen These über die Entstehung religiöser Kulte, die fast schon an Epikur und Lukrez  denken lässt.

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der Dike wird von Aischylos fortgesetzt in den Sieben gegen Theben, in denen die  Schicksale der Labdakiden verhandelt werden, wie die Atriden ein mit einem  Geschlechterfluch beladenes Geschlecht. Sie kennen, meine sehr geehrten  Damen und Herren, die Schicksale der Familie des Ödipus: Der thebanische König  Laios, Sohn des Labdakos, widersetzt sich einer Warnung Apollons und zeugt  einen Sohn. Er lässt das junge Kind, das noch keinen Namen trägt, durch einen  Hirten im Kithairongebirge aussetzen. Er tut ein Übriges, indem er ihm die Ferse  durchbohren lässt, auf dass es mit Sicherheit den Tod finde. Der Name Ödipus  (Schwellfuß) spielt auf diese Situation an. Doch der Hirte des Laios übergibt  Ödipus einem befreundeten Hirten, und durch diese Wendung der Dinge  geschieht es, dass Ödipus bei dem kinderlosen Herrscherpaar von Korinth  aufgezogen wird. Durch das Gerücht aufgescheucht, er sei nicht deren leiblicher  Sohn, verlässt Ödipus in jungen Jahren Korinth und begibt sich nach Delphi. Er  erlangt von Apollon den Orakelspruch, er werde seinen Vater töten und seine  Mutter heiraten. Und so geschieht es: Ödipus verlässt, in dem Irrglauben, so dem  Wahrspruch entgehen zu können, Korinth und begibt sich auf eine Reise, die ihn  nach Theben führen wird. Auf dem Wege trifft er auf den König Laios und gerät  mit ihm in einen Streit um die Vorfahrt. Laios will ihn züchtigen, und da erschlägt  der aufbrausende Ödipus ihn und sein Gefolge, freilich ohne zu erkennen, wen  er vor sich hat.15 

Im Gebirge um Theben lebt die Sphinx, ein Ungeheuer von halb menschlicher,  halb tierischer Gestalt, das den Bürgern der Stadt Jahr um Jahr ein Rätselwort  aufgibt, das sie sich nicht zu erklären vermögen, so dass die Sphinx ein  Menschenopfer verlangt und erhält. Es ist dies eines jener vielen Sinnbilder  mythischer Gebundenheit, an denen die griechische Geisteswelt so reich ist.  Ödipus gelingt es, das Rätsel zu lösen, er erlangt dadurch die Gunst der Thebaner  und wird von ihnen zum König erhoben und heiratet Iokaste, die nunmehr  sowohl seine Mutter als auch seine Frau ist. Als nach längerer glücklicher  Regierungszeit die Pest in Theben wütet, erfolgt ein weiteres Orakel des Apollon:  Nur wenn es gelinge, den Mörder des Laios zu finden, werde das Übel von der  Stadt genommen. Als Ödipus entdeckt, dass er selbst, wenn auch unwissentlich,  der Urheber dieser Tat ist, erhängt sich Iokaste, und Ödipus blendet sich. Es geht  um die Dike, denn Apollon, der den Willen des Zeus verkündet, kann nicht  

15 Ich bitte die aufmerksame Leserin bzw. den aufmerksamen Leser um Nachsicht, wenn ich  die Vorgeschichte der Ödipus-Sage an dieser Stelle darstelle, ohne zu differenzieren, wie sie bei den drei großen Tragikern in je verschiedener Form aufgegriffen wird.

11  

zulassen, dass der Mord an Laios ungesühnt bleibt. Die Sieben gegen Theben beschreiben, wie sich die Nachfolgekämpfe um die Königswürde gestalten:  Ödipus verflucht seine Söhne, die ihn verstoßen haben, Eteokles vertreibt seinen  Bruder Polyneikes, und dieser greift nun mit seinen argivischen Verbündeten  seine Vaterstadt an. Theben, die Stadt des Kadmos, hat sieben Tore, gegen jedes  dieser Tore rückt, wie der Kundschafter berichtet, ein Angreifer vor, und für  jedes dieser Tore bestellt Eteokles einen Verteidiger. Das Motiv der Dike ist hier  gespalten: Eteokles vertreibt Polyneikes aus Theben, aber Polyneikes greift mit  seinen Verbündeten die Vaterstadt an, und diese werden geradezu als  landfremde Barbaren dargestellt. Der Zwiespalt kommt in der Figur des Sehers  Amphiaraos zum Ausdruck, der sich nur widerstrebend dem Feldzug gegen  Theben angeschlossen hat. Er hält Polyneikes das Motiv der Aidos, der frommen  Scheu, entgegen: 

Das heiß‘ ich eine gottgefällge Tat, 

Die noch die Nachwelt hochbestaunt und preist: 

Die Stadt und die Altäre in den Staub  

Zu stürzen durch ein fremdes Kriegervolk! 

Mit welchem Recht tilgst du den Mutterquell?  

Wie tritt dein Land, von deinem wilden Speer 

Besiegt, dir je als Kampfgenosse bei? 

Ich aber segne seherisch dies Land, 

Wenn ich im Grab der Feindeserde ruh. 

Zum Kampf, zum Tod, zum ehrenvollen Ziel! 

Die Sieben gegen Theben, V. 580 – 89  

Übers. v. E. Buschor 

Wie Eteokles, so glaubt auch Polyneikes Zeus und die Stadtgötter auf seiner Seite  zu haben. Der Kundschafter berichtet: 

Als Herr des Lands will er auf unsrer Burg 

Triumph anstimmen, will im Zweikampf dort 

Dich tötend fällen oder, wenn du lebst, 

Dich schmählich bannen, auf die gleiche Art 

Dich ächten, wie du damals ihn vertriebst. 

So ruft er laut die Stammesgötter an 

Des Lands als Zeugen, was er heiß erfleht, 

Ihm zu erfüllen, Polyneikes‘ Macht.

12  

Sein Schild war neu, ein Meisterwerk der Kunst, 

Mit einem Doppelwappen reich geschmückt, 

Getriebenen Golds: es führte eine Frau 

In edler Haltung einen Krieger an. 

Sie sagt, sie sei das Recht; geschrieben steht: 

„Heim führ ich diesen Mann und gebe ihm  

Sein Vaterland, sein Vaterhaus zurück.“  

Die Sieben gegen Theben, Verse 634 – 49  

Übers. v. E. Buschor 

Aber Eteokles hält ihm nicht grundlos entgegen: “Wie hieße diese Göttin [Dike]  noch das Recht / Wenn sie dem Frevler sich verbündete?“16 Eteokles und  Polyneikes fallen beiderseits im Bruderkampf, der Fluch, der über dem  Geschlecht der Labdakiden waltet, erlischt in der dritten Generation, indem die  männliche Linie ausgelöscht wird. Manche Textausgaben haben die Rolle der  Antigone eingeführt, die aus frommer Scheu vor den Verstorbenen ihren Bruder  Polyneikes bestatten will, der nach dem Willen ihres Onkels auf freiem Feld ein  Opfer der Vögel werden soll, eine Linie, die Sophokles in seinem gleichnamigen  Stück aufgreift und fortführt. Zeus muss die gerechte Weltordnung  aufrechterhalten, und das stellt den Dichter vor die Aufgabe, die Motive der  göttlichen und menschlichen Akteure zu ponderieren, d. h. gegeneinander  abzuwägen. Dies geschieht, jedenfalls soweit es die philosophische Theologie  und Theodizee von Aischylos angeht, am überzeugendsten in der Orestie, der  einzigen vollständig erhaltenen Trilogie der drei großen griechischen Tragiker.  Ich darf auch hier in wenigen Worten die Vorgeschichte würdigen: Zwischen den  Griechen und den Trojanern entbrennt ein Konflikt, nachdem der trojanische  Prinz Paris die schöne Helena, die Gattin von Menelaos, nach Troja entführt hat. Agamemnon, der Bruder des Menelaos, ruft daher die Fürsten der griechischen  Stämme zusammen und rüstet Schiffe für eine Strafexpedition aus. Doch die  Schiffe können aus Aulis nicht auslaufen, da Agamemnon eine trächtige  Hirschkuh erlegt und dadurch die Göttin Artemis verärgert hat. Diese fordert,  dass Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfern solle, und Agamemnon folgt  diesem Verlangen widerstrebend. 

Aber Artemis erbarmt sich der Iphigenie, entrückt diese und lässt statt ihrer eine  Hirschkuh opfern. Wie immer dem sei, Agamemnon hat durch seine Tat eine  

16 Aischylos, Die Sieben gegen Theben, Verse 670 – 71, übers. v. E. Buschor.

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Schuld auf sich genommen, durch die der Erbfluch seines Geschlechts wieder  aufflammt: Atreus, der Vater des Agamemnon, hatte seinen Bruder Thyestes,  den Verführer seiner Gattin, verbannt. Unter dem Vorwand der Aussöhnung  hatte er ihn von neuem in sein Haus eingeladen, dort aber seine zerstückelten  Söhne zum Mahl vorgesetzt. Thyestes entdeckt die Greueltat und ergreift mit  seinem Sohn Aigisthos die Flucht. Dieser Aigisthos spielt im Weiteren eine Rolle,  denn er gewinnt während der Abwesenheit Agamemnons die Gunst seiner Frau  Klytaimestra und plant mit ihr die Ermordung des Königs und Feldherrn. 

Die Orestie besteht aus drei Stücken, dem Agamemnon, dem Totenopfer und  den Eumeniden. Zunächst zum Agamemnon: Als dieser nach dem Fall Trojas  heimkehrt, wird er von Klytaimestra mit vorgespiegelter Herzlichkeit  empfangen. Agamemnon lässt sich von ihr verleiten, beim Einzug in das  Königshaus einen Purpurteppich zu betreten, obwohl er sich von seiner  freventlichen Tat noch nicht entsühnt hat. Wie von Aigisthos und Klytaimestra  geplant, findet Agamemnon seinen Tod, er wird im Bade von seiner ungetreuen  Frau mit zwei Beilhieben erschlagen. Mit Agamemnon findet auch Kassandra, die  trojanische Seherin, ihren Tod. Klytaimestra und Aigisthos rühmen sich ihrer Tat,  doch Klytaimestra wird von bösen Vorahnungen ergriffen, ihre Selbstsicherheit  fällt von ihr ab. Eine knappe Inhaltsangabe wie die vorstehende vermag nicht  wiederzugeben, wie und mit welchen Mitteln Aischylos das äußerliche  Geschehen vertieft. Schon der Aufbruch der Flotte nach Troja war von  vieldeutigen und unheilverheißenden Vorzeichen begleitet gewesen, und  nunmehr macht sich die Mitwirkung der alten und der jungen Götter bemerkbar:  Klytaimestra wird von den Erinyen verfolgt, den Rachegöttinnen der Unterwelt,  Apollon erteilt Orestes, dem Sohn von Agamemnon und Klytaimestra, den Befehl  zum Muttermord, um das dem Vater angetane Unrecht zu rächen. Die Dike, das  Recht, erweist sich hier mit nochmals gesteigerter Deutlichkeit als Vergeltung  und Wiedervergeltung, ein Prozess, der kein Ende finden zu können scheint. Das  zweite Stück der Trilogie, das Totenopfer, schildert nun zunächst, wie sich am  Grabe des Agamemnon die Hauptakteure zusammenfinden: Klytaimestra schickt  ihre Slavinnen, um den Geist des verstorbenen Agamemnon durch Opfergaben  zu beschwichtigen. Aber auch Orestes, der von seiner Mutter an den Hof des  Strophios entsandt worden war, um freie Hand zu haben, kehrt mit seinem  Freund Pylades in seine Heimat zurück und gibt sich am Grabe seines Vaters  seiner Schwester Elektra zu erkennen. Die beiden Geschwister fassen nun den Entschluss, Klytaimestra und Aigisthos zu ermorden und setzen diesen ihren  Entschluss in die Tat um.

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Das dritte der Stücke, die Eumeniden, zeigt Orestes in Delphi, denn er hat sich zu  dem Heiligtum des Apollon geflüchtet, um sich von diesem entsühnen zu lassen.  Aber auch die Erynien haben den Weg nach Delphi gefunden, sie sind in den  Tempel des Apollon eingedrungen und dortselbst in Schlaf gefallen. Apollon entsühnt Orestes und entlässt ihn nach Athen, um ihn der Obhut der Stadtgöttin  Pallas Athene zu unterstellen. Aber Klytaimestra, deren Tod noch nicht gerächt  ist, scheucht die Rachegöttinnen von neuem auf. Apollon wiederum vertreibt die  Erinyen aus seinem Tempel, und diese nehmen die Verfolgung Orests auf. Auch  Apollon begibt sich nach Athen, wie sich herausstellen wird, um sich dort als  Mitschuldiger zu bekennen und Orest als Entlastungszeuge zur Verfügung zu  stehen. In Athen angekommen, umarmt Orestes schutzsuchend das heilige Bild  der Athena, wird aber von den Rachegöttinnen gestellt und umzingelt. Athene  entdeckt die Szene und lässt sich über den Anlass des Aufruhrs unterrichten. Zur  künstlerischen Gestaltung sei nur so viel bemerkt: Als einen ersten Kunstgriff  lässt Aischylos die Erinyen die Rolle von Chor und Chorführerin übernehmen, es  kommt zur Anklage, und Orestes bekennt sich ungescheut zu seiner Tat. Apollon  übernimmt die Verteidigung und liefert sich eine Reihe heftiger Wortwechsel,  sog. Stichomythien, mit den Rachegöttinnen. Als einen zweiten Kunstgriff von  Aischylos erweist es sich, dass der Dichter Athene ein ordentliches  Geschworenengericht zusammenrufen lässt. Die Dike ist jetzt also in ein  Ensemble prozessualer Vorkehrungen und Vorschriften umgewandelt worden:  Die Richter sollen ihre Stimmsteine in eine von zwei Urnen werfen, eine, die für  unschuldig, eine andere, die für schuldig steht. Als Orestes dennoch zu verlieren  droht, hinterlegt Athene ihren Stimmstein für Orestes und setzt fest, dass  Stimmengleichheit auch künftig Freispruch bedeutet. Orestes verlässt das  Gericht als freier Mann, doch kann er keineswegs als in jeder Hinsicht unschuldig  gelten: Weder die Entsühnung durch Apollon noch der Freispruch vor dem  Gericht haben die Befleckung durch die Tat des Muttermordes zur Gänze tilgen  können. Die Erinyen, empört über den Ausgang des Verfahrens, geben sich  fassungslos angesichts ihrer Entmachtung durch die jungen Götter Apollon und  Athene. Apollon verlässt die Szene, aber Athene gelingt es mit Hilfe der Göttin  der Beredsamkeit, der Peitho, die Rachegöttinnen umzustimmen. Sie verspricht  ihnen einen neuen Kult in der Nähe ihrer Burg, und diese werden, nunmehr als  Eumeniden, zu segnenden Gottheiten. Aus dem Agamemnon sei der große  Zeushymnos in Strophe du Gegenstrophe zitiert:

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Zeus, so ruf‘ ich, 

Wenn er es will, 

Unbekannten,  

Ungenannten Gott. 

Leg ich alles auf die Waage, 

Nichts wiegt schwer wie Zeus. 

Er nur kann von Zweifels Last 

Wahrhaft befreien. 

Den einst Macht des 

Siegers geschwellt, 

Ging von dannen, 

Name ist verraucht. 

Der ihm folgte, den Bezwinger 

Fand auch er und ging –  

Rufst du Zeus zum Sieger aus, 

Wird dir Gewissheit. 

Zeus führt uns der Weisheit Pfad: 

Leid ist Lehre, 

Ewig steht dies Wort. 

Statt schmerzvergessenden Schlafes  

Rieselt die Qual zum Herzen 

Und widerstrebend 

Werden wir klug; 

Gewaltsam führen die Götter die Ruder, 

verleihen die Weisheit. 

Agamemnon, Verse 160 – 183.  

übers. v. E. Buschor 

Wenn ich zuvor von einer philosophischen Theologie und von einer Theodizee  des Aischylos gesprochen habe, so findet diese Aussage in den vorstehenden  Versen ihre Bestätigung. W. Kraus hat auf die engen Parallelen zwischen 

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Aischylos und Heraklit hingewiesen.17 Für den Dichter ist Zeus der unbekannte,  der unbenannte Gott, Heraklit wiederum sagt, dass das eine, allein Kundige wolle  nicht mit dem Namen des Zeus benannt werden, und wolle es doch.  Grundproblem der philosophischen Theologie: Der Wesensumfang des  Höchsten ist für den menschlichen Verstand unbegreiflich. Grundproblem der  Theodizee: Es ist für den menschlichen Verstand daher erst recht unbegreiflich,  wie das höchste Wesen die Störungen in der Weltordnung ausgleicht oder  behebt. In den Schlusspartien der Eumeniden findet diese gedankliche  Bewegung ihren Ausdruck darin, dass die Moiren an die Seite des Zeus treten.  Die sittlichen Regulative, darunter Aidos und Dike, sind in Zeus eine neue  Verbindung eingegangen, die neue Ordnung hat sich von der alten Ordnung  dienstbar gemacht, was erhaltungswürdig war. Wenngleich die Natur dieser  Verbindung für den menschlichen Verstand nicht nachvollziehbar ist, so lässt sich  doch erraten, welche Richtung die Entwicklung nehmen wird. Sie zielt auf eine  Milderung der Rechtssitten, und es fällt uns an dieser Stelle nicht umsonst die  Antigone des Sophokles ein, trifft doch in ihr der unerbittliche Legalismus und  Machtpragmatismus Kreons auf eine von frommem Gefühl erfüllte Seele, die  sich nicht damit abfinden darf, dass der Bruder ohne Bestattung bleibt. 

 

Es wäre gewiss interessant, die Weiterentwicklung dieser Motive durch das  Werk der beiden anderen großen griechischen Tragiker weiterzuverfolgen, denn  sowohl Sophokles als auch Euripides haben die Sagenstoffe, die ihr Vorgänger bearbeitet hatte, aufgegriffen und aus ihrer Sicht neugestaltet. Ich will  stattdessen mit wenigen Worten zu Platon zurückkehren, von dem wir  ausgegangen waren. Sowohl aus der griechischen Epik als auch aus der  griechischen Tragödie geht ein zentraler Tugendwert hervor, nämlich die  σωφροσύνη, die Besonnenheit. In der Ilias mahnt Athene Achilleus zur  Besonnenheit, lobt sie Odysseus, der im Gegensatz zu Aias kaltes Blut bewahrt.  Aischylos lässt dem Seher Amphiaraos, neben anderen Tugenden, gerade diese <<

Es wäre gewiss interessant, die Weiterentwicklung dieser Motive durch das  Werk der beiden anderen großen griechischen Tragiker weiterzuverfolgen, denn  sowohl Sophokles als auch Euripides haben die Sagenstoffe, die ihr Vorgänger bearbeitet hatte, aufgegriffen und aus ihrer Sicht neugestaltet. Ich will  stattdessen mit wenigen Worten zu Platon zurückkehren, von dem wir  ausgegangen waren. Sowohl aus der griechischen Epik als auch aus der  griechischen Tragödie geht ein zentraler Tugendwert hervor, nämlich die  σωφροσύνη, die Besonnenheit. In der Ilias mahnt Athene Achilleus zur  Besonnenheit, lobt sie Odysseus, der im Gegensatz zu Aias kaltes Blut bewahrt.  Aischylos lässt dem Seher Amphiaraos, neben anderen Tugenden, gerade diese  Besonnenheit nachrühmen. In dem Dialog Protagoras diskutieren Sokrates und  der Sophist fünf Tugenden: σοφία (Klugheit), σωφροσύνη (Besonnenheit),  ἀνδρεία (Tapferkeit), δικαιοσύνη (Gerechtigkeit) und ὁσιότης (Frömmigkeit).  Protagoras, der eloquente Sophist, findet für ihren Zusammenhang eine  anmutige Metapher, wenn er sagt, sie fügten sich zusammen wie die einzelnen  Gesichtszüge zur Kontur eines Gesichts. Es ist dann sehr erheiternd, wenn  

17 Kraus, W.: “Die Aspekte des Geschehens im Prometheus“, in: ders., Aus Allem Eines. Studien  zur antiken Geistesgeschichte, Heidelberg 1984: L. Stiehm Verlag, S. 213.

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Sokrates diese Auffassung im Gespräch widerlegt und so für Protagoras nichts weniger bewirkt als einen Gesichtsverlust.18 Die Aidos, die Scham, spielt  einegroße Rolle in den sog. ethischen Frühdialogen des Denkers, ja selbst im  Gorgias und im Phaidros, aber etwa in der Politeia, tritt sie hinter die Frage der  Gerechtigkeit zurück.19 Für Platon ist der Staat entweder gerechter Staat, oder  er ist nicht. Für dieses Zurücktreten der Scham mag es einen überraschenden  Grund geben: Wie das Bild des Seelenwagens aus dem Phaidros zeigt,20 gibt es  Affekte, welche die menschliche Seele aufrühren, und die Scham ist einer dieser  Affekte. Die Scham ist und bleibt ein Element der Unruhe, die Platon aus seinem  Idealstaat verbannen wollte. Das Gerechtigkeitsempfinden hingegen ist  ideenaffin, denn die Gerechtigkeit ist selbst eine Idee und daher geeignet, die  Architektur des Gemeinwesens zu bestimmen. 

Zusatz 01.04.2023: Um den Grundcharakter der mündlichen Rede zu bewahren,  wurde der Vortrag nur auf gröbere Fehler hin durchgesehen. Ich bitte um  Nachsicht, wenn kleinere Versehen hie und da stehengeblieben sind. 

18 Platon: Protagoras 329d ff. und 349a ff. 

19 Es mag sich wiederum anders verhalten mit den Gesetzen, Platons rätselhaftem Spätwerk. 20 Platon: Phaidros, übers. u. hg. v. G. Krapinger, Stuttgart 2022: Ph. Reclam, 253c ff.